„The Children of Fallujah: The Medical Mystery at the Heart of the Iraq War“ (Das medizinische Geheimnis im Herzen des Irak-Krieges) – ein sehr eindrucksvoller Artikel über die Komplexität des DU-Problems

15. Mai 2021 Allgemein, Artikel, ICBUW
The city of Fallujah, Al Anbar Province, Iraq, during Operation IRAQI FREEDOM. (Released to Public) Location: FALLUJAH, AL ANBAR IRAQ (IRQ) DoD photo by: CPL JOEL A. CHAVERRI, USMC Date Shot: 10 Nov 2004

Die Stadt Falludscha liegt etwa siebzig Kilometer westlich von Bagdad am Euphrat und ist seit November 2004 mit einer schweren humanitären Krise konfrontiert. Zum damaligen Zeitpunkt kam es in der Stadt zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen den irakischen Aufständischen und US-geführten Truppen, bei denen Munition aus abgereichertem Uran eingesetzt wurde. Die Langzeitfolgen dieses Konflikts beeinträchtigen die lokale Bevölkerung bis heute.

Ein kürzlich erschienener Artikel zu diesem Thema von Laura Gottesdiener, der im vergangenen November in The Nation – dem ältesten und einflussreichen Wochenmagazin der Vereinigten Staaten – veröffentlicht wurde, beschreibt ausführlich die Herausforderungen, die medizinische Fachkräfte bewältigen müssen aufgrund des verbreitetem Kontakts der Bevölkerung mit toxischen Substanzen. Gottesdiener berichtet von Samira Alani, einer Kinderärztin, die ein Zentrum für Kinder mit angeborenen Fehlbildungen leitet, welche häufig eine Folge des elterlichen Kontakts mit abgereichertem Uran sind. Alani arbeitete zuvor im allgemeinen Krankenhaus von Falludscha und war mit eine der Ersten, die den Anstieg von Geburtsfehlern dokumentierte, die damals die Entbindungsstation überschwemmten. Beginnend mit anfänglich simplen Dokumentationsmethoden, hat Alani mehr als ein Dutzend Studien verfasst oder mitverfasst, die ihre vorläufigen Ergebnisse bestätigen, darunter eine, die im Journal of the Islamic Medical Association of North America veröffentlicht wurde und in der festgestellt wurde, dass Geburtsfehler in Falludscha, im weltweiten Vergleich, doppelt so häufig vorkommen.

Im Artikels legt Gottesdiener die Geschichte der Geburtsfehler als Konsequenz der Kriegsführung dar. Sie bezieht Beweise ein, die von den US-Massenvernichtungswaffen-Tests zwischen den 1940er und -70er Jahren stammen und nennt die Gerichtsverfahren, die von US-Veteranen aus dem Vietnamkrieg gegen die Hersteller von Agent Orange geführt wurden, wobei die US-Regierung die Konzerne stützte.

Sie bezieht zudem die jüngste Arbeit von Wim Zwijnenburg, Experte von PAX Niederlande (www.paxforpeace.nl) und Mitglied der ICBUW-Lenkungsgruppe, ein.  Dokumente, die durch den Freedom of Information Act erlangt und vom US-Verteidigungsministerium freigegeben wurden, belegen den Einsatz von DU während beider Golfkriege, wenn auch deutlich weniger in und um Falludscha als in anderen Gebieten des Landes. Dennoch, wie Zwijnenburg bemerkt: ,,Ein größerer Fokus auf toxische Kriegsrückstände jenseits der Munition ist notwendig, um die umweltbedingten Gesundheitsrisiken zu verstehen“. Interviews, die The Nation mit einer Reihe von Wissenschaftlern, Ärzten und Anti-DU-Aktivisten führte, stimmen mit Zwijnenburg darin überein, dass der enge Fokus der Unterlagen auf das Metall eine Analyse der allgemeinen Gesundheits- und Umwelteinflüsse der Konflikte in Falludscha und deren möglichen Zusammenhang mit den Geburtsfehlern ausschloss.

Gottesdiener nennt weitere wesentliche Argumente rund um die Debatte über die erschreckende Rate an Geburtsfehlern in Falludscha. Eines davon ist, dass eine allgemeine humanitäre Krise im Irak seit den letzten fünfzehn Jahren herrscht.

Die WHO kam zu dem Schluss, dass die Wirtschaftssanktionen, die dem Irak nach 1991 auferlegt wurden, ,,die Qualität der Gesundheitsversorgung um fünfzig Jahre zurückwirft“.

 

1996 erklärte ein Bericht der WHO, dass der Köperanteil  an Folsäure in der Bevölkerung – dem Schlüssel zur Vorbeugung von schweren angeborenen Störungen, bekannt als Neuralrohrdefekte –  um mehr als 77 Prozent zurückgegangen war. Omar Dewachi, ein bekannter Arzt und medizinischer Anthropologe, wird in dem Artikel mit den Worten zitiert: ,,Es ist bekannt, dass Ernährungsfaktoren angeborene Anomalien und Defekte verursachen, und das ist eine unerforschte Quelle für die angeborenen Fehlbildungen im Irak“.

Eine weitere Verbindung, die sie in Betracht zieht, ist das Zusammenspiel von unterschiedlichsten toxischen Chemikalien in der Umgebung von Falludscha. Es wurden nicht nur giftige Substanzen, wie weißer Phosphor auf dem Schlachtfeld in Falludscha eingesetzt, auch eine Reihe von Fabriken, Chemielagern und militärischen Industriegebäuden in der Umgebung wurde im Laufe der letzten Jahre geplündert, zerstört oder beschädigt. Im Jahr 2005 ging die UNO davon aus, dass der Irak mit mehreren tausend kontaminierten Standorten übersät ist. Im Jahr 2010 enthüllte eine Untersuchung der Times of London, dass das US-Militär mehr als viereinhalb Millionen Kilogramm Giftmüll produziert hat, und dass es gefährliches Material auf Müllhalden entlang der Hauptstraßen ablud. Das Problem bei der Identifizierung des kausalen Zusammenhangs der Geburtsfehler ist die Tatsache, dass die unterschiedlichsten Chemikalien alle miteinander interagieren und möglicherweise auch mit Schadstoffen vermischt waren, die  frühere Konflikte hinterließen. Gottesdiener fügt hinzu, dass selbst inmitten der landesweiten Umweltkrise die toxischen Rückstände Falludscha hervorstachen.

Sie schließt ihren Artikel mit einem Blick auf Samira Alanis Arbeit und die Opfer dieser Krise: die Kinder von Falludscha und ihre Eltern. Alani hat ihr Leben der Aufgabe gewidmet, Familien in Falludscha bei der Bewältigung der verheerenden Folgen des Krieges zu helfen, die ihrer Meinung nach durch die eingeschränkte pränatale Versorgung und die fehlende Unterstützung für Familien mit Geburtsfehlern noch verschärft werden. Kürzlich schrieb sie, dass ,,die hohe Prävalenz von Geburtsfehlern in Falludscha die Gesundheit der Bevölkerung und ihre Fähigkeit für die überlebenden Kinder zu sorgen, beeinträchtigt“ – währenddessen ihre Fotos von den Kindern Falludscha    zum Symbol für die irreversiblen und generationsübergreifenden Auswirkungen des Krieges geworden sind…

 

(Daniel Chappel)